Birgit Blume Phantastische Literatur
Birgit BlumePhantastische Literatur

Leseprobe: Die verborgenen Inseln - Prolog

 

 

Prolog

 

 

 

„Sie muss sterben!“
Der Schrei des Fürsten schoss aus dem Thronsaal im Ostturm das eisige Treppenhaus hinab zu den Verliesen im Keller, mischte sich unter das Gejammer der Gefangenen, strich an den Wachen vor den Toren vorbei und verlor sich auf den verschneiten Ebenen vor der Festung.
Morfan saß in seinem Zimmer am Schreibtisch und lauschte dem Schrei hinterher. Kein Muskel bewegte sich in seinem langen, schmalen Gesicht. Starr blickten seine schwarzen Augen auf das vor ihm liegende Pergament. Gleich würde der Fürst nach ihm rufen. Worauf hatte er sich nur eingelassen?
Vor vier Wintern hatte er die Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen und eine Stellung bei Eadon, dem damaligen Fürsten von Thuroth erhalten. Eadon war ein gütiger und weiser Herrscher gewesen, beliebt bei seinen Untertanen und anerkannt von den Fürsten der anderen Inseln.
Kurz nachdem Morfan seine Stelle angetreten hatte, griff Eadons Sohn nach der Fürstenkrone. Durch Geschenke und Versprechungen gewann er Verbündete, auch einige der Duin Madainn unterstützten ihn. Sie vertrauten auf seine Zusage, ihnen, sobald er Fürst war, den Schlüssel zu übergeben, der über ihr Schicksal gebot und von dem Eadon sich nicht hatte trennen wollen.

Eines Tages stand der Sohn vor Morfan und stellte ihn vor die Wahl: Tod oder Leben. Morfan wollte leben.
In der darauffolgenden Nacht nahmen der Sohn und seine Verbündeten Eadons Vertraute gefangen und entführten den Fürsten aus dem Palast. Morfan brachte ihn auf Geheiß des Sohnes in eine Höhle im Gebirge, wo er bewacht von den Steinmagiern den Rest seines Lebens fristen sollte. Niemals würde Morfan den Blick vergessen, den Eadon ihm zuwarf, als er ihn in der Höhle zurückließ.

In jener Nacht schlich sich die Kälte in Morfans Herz.
Und der Sohn wurde Fürst von Thuroth.
Morfan hatte seitdem viel gelernt. Über die Angst. Die Angst der anderen. Und seine eigene.
Er fuhr sich mit den Fingern durch seine langen dunklen Haare und erhob sich. Jenseits des Fensters lag eine stumme, dick verhüllte Welt. Hohe Schneewehen hatten die Straße zum Hafen unter sich begraben. Die Schiffe lagen starr, zur Unbeweglichkeit verdammt durch das zu Eis gefrorene Wasser. Selbst der Rand des Großen Flusses war von einer Eiskruste überzogen. Tief hingen die schweren Wolken, aus denen dicke Flocken auf die lange, weiße Stille sanken. Es war der kälteste Winter, an den Morfan sich erinnern konnte.
Ein Heulen zog durch die Dämmerung. Die Wölfe. Sie verließen die Berge auf der Suche nach Futter und kamen der Stadt zu nahe. Morfan hatte einige seiner Magier losgeschickt, die sich ihrer annehmen sollten
„Morfan!“
Seufzend warf er sich den Umhang um und trat ins Treppenhaus. Sein Atem formte kleine Wolken in der eisigen Luft. Er zog die

Kapuze über seinen Kopf und begann den Aufstieg in den

obersten Stock. Vor dem Fürstensaal hielt er inne, nickte den Wachen zu und trat durch die breite Holztür.
Der große Raum war spärlich beleuchtet, der Thron lag im Dunkeln. Wind fuhr durch den Schornstein in die Flammen des Kamins, ihre Schatten huschten über die Wände. Der Fürst stand am Fenster und starrte hinaus in die drängende Finsterniss.

„Sie muss sterben, Morfan!“ Langsam drehte er sich um. Sein fahles Gesicht war vor Wut verzerrt. „Sorge dafür!”
Morfan starrte den Fürsten ungläubig an. Er war Magier, ein Duin Madainn, kein Mörder. Warum sollte er eine Frau töten, deren einziges Vergehen darin bestand, den Fürsten nicht zu begehren? Er verstand sie gut.

„Es gibt viele Frauen, die alles darum gäben, mit dir ...“
„Ich habe dir einen Auftrag erteilt und dich nicht um deine Meinung gebeten.“
Morfan schwieg. Wie konnte er diesen Auftrag ablehnen, ohne sich und seine Familie in Gefahr zu bringen?
„Nun?“
„Das übersteigt meine Fähigkeiten.“
Der Fürst kniff die Augen zusammen. „Wozu habe ich dich dann in meine Dienste genommen?“
Der Magier drehte sich zu ihm. „Nicht, um zu töten.“
Der Fürst lachte leise. „Wach auf, Morfan. Es wird Zeit, dass du lernst, was es heißt, mein Berater zu sein.“ Er trat nah an den Magier heran. „Denk an den Schlüssel.“
„Der Schlüssel gehört den Duin Madainn. Er steht dir nicht ...“ Der Fürst holte aus und schlug zu. Morfan fiel zu Boden, Blut tropfte aus seiner Nase. „Was fällt dir ein! Mein Vater hat ihn mir zu treuen Händen übergeben.“

Das ist eine Lüge. Morfan verzog angewidert seine schmalen Lippen. Hass sprach aus seinen Augen. Er öffnete den Mund. „Wage es nicht“, zischte der Fürst. „Sonst werde ich den Schlüssel benutzen.“

Mit zufriedener Miene beobachtete er, wie Morfan den Mund wieder schloss und sich langsam erhob.
„Und jetzt tu deine Pflicht.“

Ohne ein weiteres Wort verließ Morfan den Saal, stieg die Treppe hinab, durchquerte den Innenhof und trat durch das Tor auf die Straße. Er ging in die Knie, griff mit einer Hand in den Schnee und rieb sich das kalte Weiß über Mund und Nase. Der Schmerz ließ nach. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze schlug er den Weg in die Stadt ein, die sich an die östlichen Mauern der Festung und das dahinter liegende Gebirge schmiegte.

Das gewaltige Stadttor war bereits geschlossen. Er schlug die Glocke, die in einer gemauerten Nische vor dem Tor hing. Eine Wache lugte durch das kleine Fenster im Torflügel und fragte ihn nach seinem Begehr. Morfan schlug die Kapuze zurück. Sofort wurde das Tor geöffnet und er schritt an den sich verneigenden Wachposten vorbei auf die Hauptstraße. Zahllose enge Gassen zweigten von ihr ab, zogen sich durch die dicht gedrängten Häuser nach Westen und hinauf in die Berge. Die Dächer der Häuser hatten schwer zu tragen an der weißen Last des Winters und manche hatten ihr nicht standhalten können. Doch die Kälte hatte auch ihre Vorteile. Es stank nicht. Die Abwässer, die sonst durch die verschmutzten Straßen flossen, waren erstarrt. Auch der sich in den Gassen stapelnde Müll und die hinter den Läden liegenden Ställe der Ziegen, Schafe und

Hühner gaben keinen Hauch von sich. Ganz anders als im

Sommer, wenn die Hitze alte und neue Gerüche aus den Ecken und Nischen aufschreckte.
Bettler, armselige Gestalten in viel zu dünnen Mänteln, lungerten vor den Gaststätten und Herbergen herum. Als sie Morfan erblickten, stoben sie davon. Der Fürst hatte seinen Kriegern Anweisung gegeben, sie aus der Stadt zu vertreiben. Doch wohin sollten sie sich bei dieser Kälte wenden? Sie würden auf dem Weg in den nächsten Ort erfrieren. Morfan beschloss, sie zu übersehen.

Er hastete durch die Gassen und erklomm eine der steilen Treppen, die zu den höchstgelegenen Häusern am Berghang führten. Vor einem windschiefen Haus machte er Halt und öffnete die Holztüre. Eine kleine Frau mit rundlichem Gesicht und freundlichen Augen rührte in einem Kessel über dem Feuer. Sie sah auf und strahlte ihn an.

„Morfan!“
Er trat zu ihr, legte seine Arme um sie und küsste ihre Stirn. Ihre langen Haare dufteten nach Sommerblumen. „Siana“, hauchte er und lächelte.
Sie wand sich aus seiner Umarmung und musterte ihn. „Bist du verletzt?“
Er schüttelte den Kopf. „Es ist nichts.“
„Was ist geschehen?“
Morfan setzte sich an den kleinen Holztisch vor dem Kamin. „Es geht um die Frau, die der Fürst begehrt.“
„Was ist mit ihr?“ Sianas Stimme bebte leicht.
„Ich ... soll sie töten.“ Morfan wagte nicht, seine Frau anzusehen.
„Nein“, hauchte Siana und sank auf den Stuhl neben ihm. „Das darfst du nicht tun.“ Sie ergriff seine Hände. „Morfan!“

Er sah auf. „Wenn ich mich weigere, wird er sich rächen.“
„Lass uns fortgehen. Nach Gwened oder Gwennor.“
Morfan schüttelte den Kopf. „Er wird uns finden, Siana. Er findet jeden. Wir werden nirgendwo vor ihm sicher sein.“

Er schlug die Hände vor das Gesicht und hörte seine Frau leise schluchzen. 

 

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